Umweltbedingte neurodegenerative Krankheiten, Kurzfassung

Seit Jahren häufen sich Befunde und Erkenntnisse, dass industriell hergestellte Chemikalien, aber auch natürliche Stoffe aus bestimmten Pflanzen und Tieren, neben akut toxischen Wirkungen auf den Menschen auch Langzeitwirkungen ausüben können, die zu chronischen Krankheiten führen können. Viele dieser Wirkungen betreffen ausgerechnet das Gehirn, das „Zentralorgan“, das zur Steuerung bewusster und unbewusster Lebensvorgänge dient, und das dem Menschen nur in intaktem Zustand  eine optimale Bewältigung seiner Alltagsaufgaben gewährleistet. Chemikalienwirkungen im Gehirn, besonders solche chronischer Art, können die Lebensqualität des Menschen auf Dauer stark beeinträchtigen. Viele chronische Krankheiten, die langsam fortschreiten und zu zunehmenden Allgemeinbeschwerden führen, wurden in den letzten Jahren als Folge von oder im Zusammenhang mit andauernden Expositionen der Betroffenen gegenüber Umweltchemikalien beschrieben, darunter das Chronische Erschöpfungssyndrom, die Toxische Enzephalopathie, das Lösungsmittel- und Holzschutzmittel-Syndrom, die Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS), um nur einige zu nennen. Aber auch die in der Häufigkeit innerhalb der Bevölkerung rasant zunehmenden Demenzerkrankungen wie die Parkinson-Krankheit, die Alzheimer-Krankheit, die Multiple Sklerose und andere, werden durch eine zunehmende Zahl von wissenschaftlichen Befunden mit Expositionen gegenüber Umweltchemikalien in Zusammenhang gebracht. 

Die Wissenschaft hat vielfältige Hinweise dafür geliefert, dass als Folge der Wirkungen dieser Chemikalien chronisch entzündliche Krankheitsprozesse im Gehirn ablaufen, die sich selbst verstärken und verselbständigen, und dies auch dann, wenn in den Körperflüssigkeiten die auslösenden Chemikalien mit den gängigen laboranalytischen Methoden schon lange nicht mehr nachweisbar sind. 

Gutachter argumentieren aber bis heute (2009) vor Gericht mit einem Kausalitätsverständnis, das diese Langzeitwirkungen von Chemikalien außer Acht lässt und einen direkten Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Chemikalien-Exposition und toxischer Wirkung im Körper in zeitlich überschaubarem Zusammenhang verlangt. Leider aber verhalten sich die chronischen Wirkungen von Chemikalien besonders im Gehirn und Nervensystem nicht so, wie dies die kurze Halbwertszeit der Erkenntnis zeitlicher Zusammenhänge bei Gutachtern, Richtern, Vertretern des Gesundheitswesens und Politikern zulässt.

Immerhin wurden 1997 die Enzephalopathie und Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel als BK Nr.1317 in die Liste der anerkannten Berufskrankheiten aufgenommen. Im Merkblatt zur BK 1317 wurde erstmals ausdrücklich anerkannt, dass auch Jahre nach Beendigung einer beruflichen Tätigkeit mit Belastungen durch neurotoxische Stoffe, z.B. durch organische Lösungsmittel, eine Zunahme der Beschwerden sowie eine Verschlechterung neurologischer Untersuchungsbefunde festgestellt werden kann. Bislang wurde ein kausaler Zusammenhang abgelehnt. Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Neurotoxikologie chronisch-entzündlicher und degenerativer Krankheiten des Zentralen Nervensystems machen jedoch ein Umdenken notwendig. Diese Erkenntnisse sind in der aktuellen  Fachliteratur dokumentiert.  Was aber noch fehlt, ist die Umsetzung dieser Erkenntnisse in der täglichen ärztlichen und Gutachter-Praxis, wenn es um die Beurteilung umweltbedingter neurologischer Krankheiten geht. Oft werden diese Erkenntnisse nicht im Interesse der Betroffenen angewendet,  und eine gerechte Entschädigung für ihre nicht durch sie selbst verschuldeten Krankheit findet nicht statt. Es ist notwendig, dass Patienten-Initiativen, die sich im Rahmen von GENUK e.V. zusammenfinden, die  Seite der Betroffenen öffentlich vertreten, wobei sie sich auf die mit Sorgfalt und Objektivität aus aktueller wissenschaftlicher Fachliteratur recherchierten Erkenntnisse stützen.

Es handelt sich um chronische neurologische Krankheitsbilder, für die es einen Nachweis des Zusammenhangs mit Belastungen durch Umweltchemikalien (und anderen Umwelteinflüssen) gibt. Dabei sind aktuelle Erkenntnisse über Wirkungen von organischen Phosphorverbindungen (Organophosphate) von besonderer Bedeutung, um  diesen Zusammenhang zwischen Chemikalienwirkung und im Gehirn ablaufenden Mechanismen chronisch-degenerativer Demenz-Erkrankungen zu begründen. Es zeichnet sich ab, dass diese und andere  Umweltchemikalien dafür verantwortlich sein werden, dass Zig Millionen von Menschen zukünftig ihr Lebensende in einem Zustand zunehmenden Gedächtnis-, Denk- und Bewusstseinsverlustes fristen müssen. Sie verlieren dabei als Alzheimer- oder Parkinson-Patienten alles, was das Leben auch an seinem Ende noch lebens- und würdevoll machen kann, und dies nur, weil aus Gründen angeblicher wirtschaftlicher Notwendigkeiten nicht auf die Produktion chronisch neurotoxischer Chemikalien, z.B. vieler Pestizide in der Landwirtschaft, verzichtet werden könne.

Nach neuen Erkenntnissen der Neurowissenschaft spielen Entzündungsvorgänge im Gehirn nicht nur bei den genannten Umwelt- und Demenzkrankheiten, sondern auch bei fast allen psychiatrischen Krankheiten eine große Rolle. Als Ursachenfaktoren kommen neben Umwelteinflüssen (Schadstoffe, Allergene, Infektionserreger) auch chronischer psychosozialer Stress in Frage. Ein Zusammenwirken von hoher Stressbelastung mit den genannten Umweltfaktoren führt demnach zu einem besonders hohen Risiko für psychiatrische und Demenz-Erkrankungen. Diese nun erwiesene Tatsache ist von großer Bedeutung für die präventive Umwelt- und Gesundheitspolitik und sollte entsprechende Anwendung im Gesundheitswesen und Umweltschutz finden.

 

Gemeinsame Merkmale chronisch entzündlicher Multisystem- und Demenzkrankheiten

Chronisch-entzündliche Multisystem-Krankheiten wie MCS (Multiple Chemical Sensitivity) und CFS/ME (Chronisches Erschöpfungssyndrom/ Myalgische Enzephalopathie), Demenzkrankheiten und psychiatrische Krankheiten zeigen bei den biochemischen Pathomechanismen offenbar wesentliche gemeinsame Merkmale (wie z.B. Entzündungsprozesse im Gehirn, Exzitotoxizität durch übererregte NMDA-Rezeptoren, Oxidativer und Nitrosativer Stress, Funktionsdefekte der Mitochondrien, Energiemangel im Gehirn), die darauf hindeuten,  dass eine Trennung von „psychischen“ und organischen Krankheiten obsolet ist, und dass möglicherweise alle diese Krankheiten gemeinsame Ursachenfaktoren besitzen, die neben genetischen Faktoren vorwiegend in der Umwelt zu suchen sind: Umweltschadstoffe, allergische Reaktionen des Immunsystems, chronische Virus- und Bakterien-Infektionen, Autoimmunreaktionen, chronischer psychischer Stress. Diese Faktoren fördern ein Entzündungsgeschehen im Gehirn, das in einen fortschreitenden degenerativen Prozess münden kann.

Die Fakten liegen beweiskräftig auf dem Tisch. Wir  müssen sie nur in die Öffentlichkeit bringen und Druck machen. Mit Spekulationen und Halbwahrheiten geben wir uns nicht mehr ab, das überlassen wir den Esoterikern – dies aus Gründen der Glaubwürdigkeit bei einem gesellschaftlich hoch brisanten Thema, das sich um die Ursachen der rasant zunehmenden Demenzkrankheiten dreht.

 

Literatur:

 - Pall ML (2007): Explaining unexplained illnesses. Harrington Park Press, New York, London

- Mattson MP (2003): Excitotoxic and excitoprotective mechanisms: Abundant targets for the prevention and treatment of neurodegenerative disorders. Neuromol. Med. 3, 65-94

- Mattson MP, and Liu D (2002): Energetics and oxidative stress in synaptic plasticity and neurodegenerative disorders. Neuromol. Med. 2, 215-231

 - Hill, H.U.: Umweltschadstoffe und Neurodegenerative Erkrankungen des Gehirns. – Wie neurotoxische Langzeitwirkungen von Chemikalien zur Degeneration des Gehirns führen.

Shaker-Verlag, Aachen, 3. erweiterte Auflage 2012,
ISBN: 078-3-8440-0851-7
 
- Hill, H.U., Huber, W., Müller, K.E.: Multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) – Ein Krankheitsbild der chronischen Multisystemerkrankungen (CMI)
Shaker-Verlag, Aachen, 3. Auflage 2010
 
- Hill, H.U.: Chronisch krank durch Chemikalien. – Ein Ratgeber. Shaker-Verlag, Aachen, 2. Aufl. 2009
 
Umweltbedingte Schäden an postsynaptischen Membranen von Dopamin-D2-Rezeptoren