Multiple Chemical Sensitivity – Multiple Chemikalien-Überempfindlichkeit (MCS)
H.U. Hill, Dipl. Biologe und Fachtoxikologe
2. Auslösung der Krankheit
3. Symptome
4. Krankheitsmechanismus
5. Hinweise zur Therapie
6. Voraussetzung einer erfolgreichen MCS-Therapie
7. Literatur
Zunehmende Belastungen durch eine Vielfalt von industriell hergestellten Chemikalien in Luft, Wasser, Nahrungsmitteln, Innenräumen, Baustoffen, Textilien und vielen Verbrauchsprodukten verursachen ein erhöhtes Risiko für die Bevölkerung, eine unspezifische Chemikalien-Überempfindlichkeit gegen geringste Spuren von Fremdchemikalien zu erwerben. Ein großer Teil der Bevölkerung, man spricht von Anteilen von bis zu 10 Prozent, leidet heute bereits unter einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Form einer Chemikalien-Überempfindlichkeit. Über 100 000 industriell hergestellte Chemikalien sind auf dem Markt, ständig werden es mehr, aber nur von wenigen Tausend sind wenige toxikologische Daten bekannt. Die chronischen Langzeit- und Kombinationswirkungen niedriger Konzentrationen sind praktisch für überhaupt keinen Stoff systematisch untersucht, obwohl es Hinweise für solche Wirkungen z.B. der Pestizide aus der Umwelttoxikologie gibt. Dennoch werden diese Stoffe vermarktet.
Vielfältige epidemiologische Studien und Fallbeschreibungen weisen darauf hin, dass der Mechanismus von MCS entweder nach kurzzeitigen Einwirkungen hoher Konzentrationen oder durch langzeitige Belastungen niedriger Konzentrationen ausgelöst wird. Beispiele sind
die Kombinationsbelastungen von Tausenden von Soldaten der US-Armee während der Golfkriege durch Abgase der Ölbrände, Pestizide, Medikamente und Spuren von Chemiewaffen, sowie Tausende von chronischen Krankheitsfällen nach den Chemikalienbelastungen der Helfer, die nach dem Einsturz der Hochhäuser des World Trade Centers in New York 2001 zum Einsatz kamen, aber auch Tausende von Fällen mit MCS, die in den Selbsthilfegruppen Hilfe suchen, und in deren Lebenslauf regelmäßig Chemikalienbelastungen durch Lösungsmittel, Pestizide, Schwermetalle (Zahn-Amalgam), Verbrennungsabgase, Autoabgase, Flammschutzmittel, Weichmacher, Desinfektionsmittel, Reinigungsmittel und nicht zuletzt Medikamente aller Art nachweisbar sind.
Ausgeprägte Überempfindlichkeitsreaktionen auf geringste Spuren von Fremdchemikalien hauptsächlich in der Atemluft, aber auch in Wasser- und Lebensmitteln, beispielsweise auf Duftstoffe, leichtflüchtige organische Stoffe aus Autoabgasen, Lösungsmitteln, Kunststoffmaterialien, Textilien, Baustoffen, Bodenbelägen, Klebern, Reinigungsmitteln, Flammschutzmitteln, Weichmachern usw.,
dabei akut Atemnot, Herzrasen, Herzrhythmusstörungen, Schwindel, Kopfschmerz, Bluthochdruck,
dazu andauernde Allgemeinbeschwerden wie Schwäche- und Krankheitsgefühl, Gereiztheit, Erschöpfung, schwere Müdigkeit, dabei gleichzeitig schwere Schlafstörungen bis hin zur Schlaflosigkeit nachts, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Schmerzen an Muskeln, Gelenken, schnelle Erschöpfung der Muskeln bei körperlicher Belastung.
Krankheitsmechanismus:
Vom Beginn der schädigenden Einwirkung von Chemikalien bis zum ersten Auftreten der Symptome können Jahre vergehen. In dieser Zeit entwickelt sich ein sich selbst verstärkender biochemischer Mechanismus in den Zellen des zentralen Nervensystems (ZNS), des Immun- und des Hormonsystems, der zu einem generalisierten und systemischen Krankheitsbild führt, an dem im Wesentlichen Entzündungsmechanismen mit Auswirkungen auf das Stresshormonsystem und auf die Funktionen des ZNS beteiligt sind.
Der Mechanismus wird durch Wechselwirkung von Chemikalien mit Teilen des angeborenen Immunsystems sowie des sensorischen und zentralen Nervensystems ausgelöst. Dabei können bestimmte Chemikalien und/oder deren aktivierte Abbauprodukte in Zellen des Immunsystems (Makrophagen, Granulozyten) direkt die Produktion von entzündungsfördernden Botenstoffen (Zytokinen) auslösen, oder indirekt nach Bindung an bestimmte Rezeptoren des peripheren und zentralen Nervensystems (Muskarin-, TRP-, NMDA-, GABA-Rezeptoren) Entzündungsvorgänge im Gehirn auslösen. Als Folge dieser Auslösungsmechanismen wird ein sich selbst verstärkender pathologischer biochemischer Reaktions- und Signalzyklus ausgelöst, bei dem erhöhte Konzentrationen von Sauerstoffradikalen, Stickstoffmonoxid und Peroxynitrit im Gehirn Schäden an Nervenzellen bis hin zu deren Zerstörung (Apoptose) bewirken (NO-Peroxynitrit-Zyklus nach Pall, 2007). Dabei wird auch das angeborene Immunsystem im Gehirn über Gliazellen und Oligodendrozyten verstärkt aktiviert, es kommt zu neuronaler Entzündung im Gehirn, die im Endstadium auch bis zu neurodegenerativen Krankheiten wie die Alzheimer-, Parkinson- und Lewy-Körperchen-Demenz weiterlaufen können. Hinzu kommen Wirkungen der bei den Entzündungsmechanismen freigesetzten Zytokine, die u.a. im Gehirn über den Hypothalamus die Stresshormon-Achse aktivieren, die Cortisol-Produktion zeitweise verstärken und dessen schädigende Wirkung auf das Gehirn verstärken.
Da genetische Defekte im Entgiftungssystem des Körpers, z.B. bei den Enzymen des Fremdstoffmetabolismus der Stufe I (Cytochrom-P450-Monooxigenasen CYP 1A1 usw.) und der Stufe II (z.B. Glutathion-S-Transferasen GSTM1, GSTP1, usw.) bei den Betroffenen zu einem erhöhten Risiko für eine Erkrankung an MCS und CFS (Chronic Fatigue Syndrom) führen, ist erwiesen, dass ein Zusammenwirken von Umweltfaktoren und genetischen Faktoren die Empfindlichkeit gegenüber Chemikalien bestimmt, und dass Fremdchemikalien tatsächlich über den körpereigenen Entgiftungsmechanismus zur Ausprägung von MCS beitragen.
Eine alleinige Zuordnung der Krankheit MCS zu den psychisch oder psychosomatisch bedingten Krankheiten ist somit fachlich nicht zu rechtfertigen, wenn auch die sekundär gebildeten Stresshormone im Gehirn Verhaltensänderungen und den Ausfall von Gehirnfunktionen verursachen, die einem Psychiater äußerlich wie eine psychisch bedingte Krankheit erscheinen. Daher darf einem Psychiater allein nicht die Entscheidungshoheit über die Diagnose einer umweltbedingten Erkrankung wie MCS überlassen werden.
Hinweise zur Therapie
Umweltmediziner entwickeln derzeit Therapiekonzepte, die im Wesentlichen auf eine Unterbrechung des NO-Peroxynitrit-Zyklus sowie auf eine Wiederherstellung der Mitochondrienfunktionen beim Atmungs- und Energiestoffwechsel hinauslaufen.
In der Diskussion sind antioxidative und Radikal-neutralisierende Wirkstoffe sowie verschiedene Vitamine. Hinzu kommen natürlich verschiedene Entgiftungs- und Ausleitungsverfahren, wir z.B. für Schwermetalle.
Voraussetzung einer erfolgreichen MCS-Therapie ist allerdings eine wirksame Prävention:
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Schadstoffquellen in Wohnung, Arbeitsplatz und persönlicher Umwelt beseitigen, soweit finanziell möglich;
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Ernährung durch biologisch erzeugte und pestizidfreie Nahrungsmittel,
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Nutzung schadstofffreier Gebrauchsgegenstände und Textilien,
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Zahnersatz durch weitgehend schadstofffreie Zahnwerkstoffe, Amalgam unbedingt entfernen, Quecksilber ausleiten (wenn möglich).
Literatur: Pall, M.L.: Multiple Chemikaliensensitivität: Toxikologie und Sensitivitätsmechanismen. www.martinpall.info.
"Multiple Chemical Sensitivities" . A Case Definition Workshop, San Francisco, August 4-6, 2006, Hosted by the Chemical Injury Information Network (CIIN.org)
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Multiple Chemical Sensitivity
– Multiple Chemikalien-Überempfindlichkeit (MCS)
H.U. Hill, Dipl. Biologe und Fachtoxikologe
November 2011
- Zur Geschichte
- Grundlegende Merkmale von MCS
- Diagnose und Klassifizierung von MCS
- Definition Chemikalien-Sensivität (MCS) - American consensus
- Einschluss/Ausschlusskriterien
- Symptome und Kennzeichen von MCS
- Häufigkeit der Chemikalien-Überempfindlichkeit (MCS und verwandte Krankheiten) in der Bevölkerung
- Epidemiologie
- Innenraum-Belastung als wesentlicher Faktor
- Krankheitsmechanismus
- Genetische Suszeptibilität
- MCS ist keine psychische Erkrankung
- Hinweise zur Therapie
- Literatur
Zur Geschichte
Das Konzept der Krankheit MCS entstand im Zusammenhang mit der Entwicklung der so genannten „klinischen Ökologie“ in den USA, die in den 1930-er und 1940-er Jahren ihren Anfang nahm. Damals waren mit den Fortschritten der Immunologie die Allergien als umweltbedingte Krankheiten anerkannt worden. Mit Allergie konnten jedoch eine Reihe von chronischen Krankheiten wie Arthritis, Colitis ulcerosa, Migräne, chronische Erschöpfung, nicht erklärt werden. In den 1950-er Jahren führte Randolph den Begriff „Chemical Sensitivity“ erstmals zur Charakterisierung einer Erkrankung ein, bei der Patienten auf synthetische Chemikalien ähnlich mit unspezifischen Allgemeinsymptomen reagierten wie auf problematische Nahrungsmittel (Maschewsky, 1996).
In den 1960-er Jahren festigte sich in den USA die Erkenntnis, dass die spezifischen Mechanismen der Reaktionen des Immunsystems nicht geeignet sind, allgemein veränderte Zustände des Körpers als Folge von Umwelt-Einwirkungen zu erklären. Im Rahmen der neu gegründeten „Society of Clinical Ecology“ suchten Wissenschaftler in den USA nach Ursachen und Mechanismen zur Erklärung umweltbedingter Erkrankungen, deren unspezifische Merkmale viele Körpersysteme und Organe betreffen können. Bereits damals fiel auf, dass Patienten mit diesen unspezifischen Symptomen meist eine lange Geschichte von verschiedenartigen Einzelbelastungen mit Fremdstoffen hatten. Daraus entwickelte sich der Begriff der Gesamtbelastung, mit dem eine lebenslange Kumulation von Einzelbelastungen als Ursache für die Symptomatik der Überempfindlichkeit gemeint ist. In den 1960-er und 1970-er Jahren war aufgrund der Entwicklung neuer Materialien im Bauwesen, der produzierenden Industrie, der Erdöl-verarbeitenden Industrie und Chemie-Industrie eine neuartige Belastungssituation für die Bevölkerung entstanden: Kunststoffmaterialien breiteten sich in vielen Lebensbereichen aus, in Gebäuden und Wohnungen gasten organische Reststoffe und Zusätze (Weichmacher, Flammschutzmittel) aus den Materialien aus und verursachten Symptome des „Sick-Building-Syndroms“. Von 1945 bis 1980 nahm die Produktion synthetischer organischer Chemikalien in den USA um das 15-fache zu (Ashford, Miller 1998). Das „Chemie-Zeitalter“ war angebrochen. In der Landwirtschaft wurden zunehmend hoch-toxische Pestizide eingesetzt, die die Luft, den Boden, das Grund- und Trinkwasser und die behandelten Nutzpflanzen selbst belasteten. Bis heute werden in einigen Kulturpflanzen aus der Massenproduktion (z.B. Paprika) bis zu 16 verschiedene Pestizid-Wirkstoffe nachgewiesen (Greenpeace, 2003). Außerdem nahm der Konsum von Medikamenten aller Art sowie von Nahrungsmitteln, die mit künstlichen Zusatzstoffen behandelt sind, in den Industrieländern zu. Gleichzeitig mehrten sich Beobachtungen und Befunde über umweltbedingte Krankheiten und speziell zu Chemikalien-Überempfindlichkeit.
Das Environmental Health Center (EHC) in Dallas, USA, hat unter der Leitung von W.J. Rea eine große Zahl von Studien mit über 20 000 Patienten, die in irgend einer Weise sensibel auf Chemikalien reagierten, durchgeführt und ausgewertet. Als Ergebnis dieser Arbeiten entstand das vierbändige Standardwerk „Chemical Sensitivity“ (Rea, 1992, 1994, 1996, 1997), in dem die bis dahin bekannten epidemiologischen und pathophysiologischen Grundlagen zu MCS zusammengeführt wurden. Auch Kipen und Fiedler (1999) sowie Davidoff und Keyl (1996) betonen die „erstaunlichen Ähnlichkeiten“ der Symptome, die aus „bemerkenswert verschiedenen Ursachen“ in der Umwelt hervorgerufen werden. Die Gemeinsamkeiten dieser Symptome könnten dafür genutzt werden, das Krankheitsbild wissenschaftlich genauer zu erfassen.
Zu den wesentlichen Erkenntnissen aus diesen Studien gehören folgende Feststellungen:
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Eine Chemikalien-Überempfindlichkeit entwickelt sich abhängig von der jeweiligen Lebens- und Arbeitsumwelt des Betroffenen, wobei die kumulative Gesamtbelastung entscheidend ist.
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Es gibt eine signifikante Latenzzeit zwischen einer initialen toxischen Umweltexposition oder auch wiederholten initialen Einzelexpositionen und der Ausprägung der Symptome einer Chemikalien-Überempfindlichket (Rea,1992). Das heißt: Eine initiale Chemikalienexposition führt im Körper während einer Sensibilisierungsphase zu pathologischen biochemischen Mechanismen, an deren Ende es erst zur Ausprägung äußerlich erkennbarer Krankheitssymptome kommt (Sensibilitätsphase).