MCS - Meidung der Auslöser notwendig

Autor: Georg C. Lichtenberg

Chemikalienbedingte Erkrankungen verschlechtern sich in der Regel bei fortdauernder Exposition und können chronifizieren (dazu auch Vortrag von Dr. Volker von Baehr). Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die möglichst vollständige Vermeidung der auslösenden Substanzen auch unterhalb gesetzlich festgelegter Grenzwerte notwendig, um ein weiteres Fortschreiten des Krankheitsprozesses und eine Chronifizierung zu vermeiden bzw. zu verlangsamen.

Für Nichterkrankte - aber auch Mediziner - ist oft unverständlich, dass selbst auf kleinste, unter den gesetzlichen Grenzwerten liegende Stoffkonzentrationen eine teils schwere physische Reaktion der Betroffenen erfolgt. Derartige Stoffkonzentrationen gelten als ungefährlich in der Toxikologie laut der klassischen linearen Dosis-Wirkungs-Beziehung mit Schwelle. Dieses Verständnis trägt häufig zu einer Psychiatrisierung der Betroffenen bei.

Chemikalien sind gemäß diesem Verständnis nicht Auslöser von Krankheiten mit psychischen Komorbiditäten (Begleiterkrankungen), sondern psychische "Probleme" oder sogenannte psychiatrische Erkrankungen führen zu physischen Komorbiditäten (sogenannte "somatoforme" oder auch nichtfunktionelle Störungen, Umkehr der Ursache-Wirkungsbeziehung). Da es zwischen der mit dem Begriff "MCS" umschriebenen Erkrankung und zum Beispiel der Neurasthenie/Erschöpfung (Diagnosecode F48.0) eine Vielzahl übereinstimmender oft unspezifischer Symptome gibt, kommt es zudem häufig zu Diagnoseartefakten.

Nichterkrankte reagieren nicht auf diese Auslöser (oder nicht in diesen Konzentrationen) und können daher oft nicht nachvollziehen, dass die Betroffenen ein starkes Bedürfnis haben, die Quelle (den Auslöser) zu meiden bzw. diesem zu entfliehen. Bevor MCS-Erkrankte reagieren, nehmen Sie per Geruch wahrnehmbare Chemikalien in der Regel sehr früh war und vermeiden dann Verweilen an diesem Ort, oder entfliehen ihm. Dies führt immer wieder zu der Ansicht, dass MCS-Erkrankte Gerüche meiden. Aber: MCS-Erkrankte meiden keine Gerüche, sie meiden Chemikalien, die je nach Art, Dauer und Intensität der Exposition schwere physische und meist in der Folge auch psychische Reaktionen auslösen. Viele dieser Chemikalien sind als Gerüche wahrnehmbar.

Im folgenden einige Quellen, die vorgenannte Betrachtungen untermauern, unter anderem des Umweltbundesamtes und des wissenschaftlichen Ausschusses für Verbrauchersicherheit der europäischen Kommission.

Die lineare schwellenorientierte Dosis-Wirkungs-Beziehung wird von Dr. Andreas Gies vom Umweltbundesamt Berlin (Mitglied der Kommission Innenraumlufthygiene) im Rahmen der Forschungen zu endokrinen Disruptoren (hormonähnlich wirkende Chemikalien) infrage gestellt:

Die Dosis macht die Wirkung, da ist überhaupt kein Zweifel. Aber welche Dosis macht welche Wirkung? Früher dachten wir: Je höher die Dosis, desto größer die Wirkung. Aber wir sehen, dass bei kleinen Dosen und kleinen Konzentrationen oft die Wirkung anders und stärker sein kann als bei hohen Konzentrationen. Das macht auch unsere Bewertung nicht leichter, sondern macht die eher komplizierter.“ (Sendung „Versteckte Hormone - Eine alltägliche Gefahr“, ab 15:23 min, Erstausstrahlung am 24.3.2014, 22:00h BR)

Dr. Wolfgang Straff vom Umweltbundesamt Berlin (Abteilung Umwelthygiene und Umweltmedizin, gesundheitliche Bewertung) äussert sich zur Riechfähigkeit der MCS-Kranken und dem speziellen Resorptionspfad über die Nase direkt ins Hirn:

Bei einer im Rahmen dieser Studien durchgeführten Zusatzuntersuchung ergab sich kein Hinweis auf eine überdurchschnittliche Riechleistung bzw. erhöhte Geruchsempfindlichkeit von MCS-Patienten. [...] Werden Duftstoffe über die Riechsinneszellen resorbiert, so ist es wahrscheinlich, dass sie aufgrund der physiologischen Besonderheiten der Geruchsbahn über die Nervenfaserbündel direkt als Substanzen in den Bulbus olfactorius (Riechkolben an der vorderen Hirnbasis) gelangen.(Quelle: DOI 10.1007/s00103-005-1170-y, 2005, Bundesgesundheitsblatt, Artikel „Anwendung von Duftstoffen – Was ist mit den Nebenwirkungen?“)

Dieser besondere Resorptionspfad über eine unmittelbare Verbindung zum Gehirn macht die unmittelbare und starke Wirkung vieler Chemikalien plausibel (neben Resorption über Lunge, Haut und Magen/Darm). Eine direkte Aufnahme ins Hirn über den Bulbus Olfactorius vermeidet zum einen den First-Pass-Effekt über die Leber und umgeht auch die Blut-Hirn-Schranke, einen Schutzmechanismus des Hirns gegen über das Blut eingebrachte Toxine und Bakterien.

Einige Chemikalien speziell in Duftstoffen führen anerkannterweise zu Kontaktallergien der Haut, es wird aber immer wieder in Frage gestellt, dass diese Stoffe auch zu einer Allergie der Atemwege führen können. Der wissenschaftliche Ausschuss „Verbrauchersicherheit“ (SCCS, „Scientific Committee on Consumer Safety“) der europäischen Kommission hat in einer Pressemitteilung mit dem Titel „Fragen und Antworten: Kommission startet öffentliche Konsultation über allergene Duftstoffe“ direkt am Anfang unmissverständlich festgestellt:

Einige in Duftstoffen enthaltene Substanzen können eine Haut- oder Atemwegsallergie hervorrufen (MEMO/14/108, 13.2.2014).

Deswegen ist nicht nur - aber auch - die Meidung von Duftstoffen wichtig:

Angesichts der weitverbreiteten Verwendung von Duftstoffen kann es sehr schwierig sein, sie alle zu meiden. Es ist indessen wichtig, dass man diejenigen meidet, gegen die man bereits sensibilisiert ist.

Diese dringende Weisung wird gegen Ende des Memo wiederholt:

Es kann schwierig sein, Duftstoffe vollständig zu vermeiden, aber es ist wichtig, dass man diejenigen meidet, gegen die man bereits sensibilisiert ist.

Das Scientific Committee on Consumer Safety“ der europäischen Kommission führt im Dezember 2011 zu Grenzwerten aus ("fragrances" sind Duftstoffe):

It was not possible to provide a safe threshold for natural extracts of concern, as no specific investigations exist and the model providing the general threshold (0.01%) has been based on individual chemicals only. However the SCCS considers that the maximum use concentration applies to the identified chemicals both if added as chemicals or as an identified constituent of a natural ingredient. This will also reduce the risk of sensitisation and elicitation from natural extracts. („Opinion on fragrance allergens in cosmetic products“ („SCCS/1459/11“))

Das SCCS berücksichtigt also ausdrücklich additive toxische Effekte der Einzelstoffe. Auch im weiteren bleibt der SCCS ebenso unmissverständlich:

Fragrances are volatile and therefore, in addition to skin exposure, a perfume also exposes the eyes and naso-respiratory tract. It is estimated that 2–4% of the adult population is affected by respiratory or eye symptoms by such an exposure (28). It is known that exposure to fragrances may exacerbate pre-existing asthma (29). Asthma-like symptoms can be provoked by sensory mechanisms (30). In an epidemiological investigation, a significant association was found between respiratory complaints related to fragrances and contact allergy to fragrance ingredients, in addition to hand eczema, which were independent risk factors in a multivariate analysis (31).

(Die geklammerten Ziffern kennzeichnen die Belegstellen der wissenschaftlichen Papiere im Literaturverzeichnis des SCCS-Dokumentes)

Diese Aussage deckt sich mit der Position, die das Umweltbundesamt bereits 2007 in einer Broschüre dem Endverbraucher klar empfohlen hat: bei Reaktionen strikte Expositionskarenz:

Wenn Sie wissen, dass Sie auf einen der enthaltenen Duftstoffe allergisch reagieren, sollten Sie dieses Produkt strikt meiden. Eine für das Umweltbundesamt durchgeführte Studie ergab, dass es mindestens eine halbe Million Duftstoff-Allergiker in Deutschland gibt. (Broschüre „Duftstoffe in Wasch- und Reinigungsmitteln)

Die "Handlungsorientierte umweltmedizinische Praxisleitlinie" des "Deutschen Berufsverbandes der Umweltmediziner" (dbu) erklärt ebenso deutlich:

Der Verlauf der UME [Umweltmedizinischen Erkrankungen] ist abhängig von der Möglichkeit einen Expositionsstopp bzw. eine Expositionsminderung bezüglich der relevanten Schadstoffe zügig herbeizuführen. Hierzu existiert eine Vielzahl von publizierten Verlaufsbeobachtungen, Follow-up-Studien und Reviews (Übersichten bei: Wassermann et al. 2001, Colosio et al. 2003, Runeson et al. 2003, Laumbach et al. 2005, Shoemaker et al. 2005, van Valen et al. 2009, Norbäck 2009) (EVG= II-III, Konsens= A / 100%).

sowie

Die Basistherapie bei UME stellt der Expositionsstopp bzw. die Verminderung der Exposition auf ein verträgliches Maß dar.

 

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in der Folge auch